Kontrast der Zeit
Können Sie sich erinnern, wie Ihre Heimatstadt vor 30 Jahren aussah? Oder Ihre Nachbarschaft? Zeit lädt zum Vergessen ein, Geschäfte kommen und gehen, Grünflächen verschwinden, Großbauten sprießen aus dem Boden.
Besonders in der deutschen Hauptstadt sind Veränderungen zuhauf vor zu finden. Wir leben in einer schnellen Zeit, die nie stillzustehen scheint.
von Niels Stiefeling
Dieses Jahr feiern wir schon das 30-jährige Jubiläum eines der einprägsamsten deutschen Geschichtsereignisse der Neuzeit: den Mauerfall. Heute unvorstellbar, aber vor gar nicht allzu langer Zeit war die Metropole noch zweigeteilt, und auch wenn sich die Menschen auf beiden Seiten der Mauer ähnelten und viele Gemeinsamkeiten hatten, wurden Grenzen erbaut, die das Nahe in weite Ferne rückten. Von heute auf morgen wurden Freunde oder gar ganze Familien voneinander getrennt.
Das Leben war eine ganze Zeit ein anderes. Bis 1989 der für viele erlösende Mauerfall geschah, provoziert durch friedliche Revolutionen, und eine neue Ära der Freiheit eingeläutet hat. Seitdem ist viel geschehen in Berlin, viele Orte erinnern nur noch vage an eine bereits vergangene Zeit, andere sind klar wiederzuerkennen. Berlin gilt heute als Ort der Freiheit, Individualität und Toleranz.
„Einige Szenen
erinnern deutlich
an vergangene Zeiten.“
Gerd Danigel kann auf ein großes dokumentarisches Archiv aus Bildern zurückgreifen, die kurz nach dem Mauerfall entstanden sind. Aufgewachsen ist er selber in Ostberlin und hat auch den Zenit der DDR am eigenen Leib erlebt. Nach seiner Ausbildung zum Gasmonteur kam er über Umwege zur Fotografie und begann diese Reise als Autodidakt. Zwischenzeitlich arbeitete er als Fotograf im staatlichen Institut für Kulturbauten und machte zahlreiche Aufnahmen von Bauwerken aus der DDR im Auftrag der Sächsischen Landesbibliothek – Staats– und Universitätsbibliothek Dresden.
Nach dem Mauerfall und der geöffneten Grenze begann er jedoch recht schnell, verschiedene Schauplätze in Ost- und Westberlin fotografisch festzuhalten. So machte er zusammenhängende Aufnahmen von Orten, die jahrzentelang in zwei Teile gerissen waren.
Heute hat er viele der damals fotografierten Orte ein zweites Mal aufgesucht, um vergleichende Aufnahmen zu erstellen. Einige Szenen erinnern deutlich an vergangene Zeiten, unterscheiden sich allein durch den Namen des zu sehenden Ladengeschäfts oder der Reklametafel.
Andere Gegenüberstellungen zeigen starke Kontraste. Damals strikt unerreichbare Orte sind heute offen zugänglich und beliebig bereisbar. Berlin wirkt freier auf den Bildern von 2019. Dieser Eindruck entsteht nicht nur wegen der nicht mehr vorhandenen Mauer. Allein dass die aktuellen Bilder in Farbe erstrahlen, erzeugt ein lebendiges, in der direkten Gegenüberstellung frisches Gefühl. Dabei entsteht eine Dokumentation des rasanten Wandels unserer Neuzeit, der jeden Tag stattfindet und doch erst richtig deutlich wird, wenn man vergleichende Bilder der gleichen Szenerie direkt nebeneinanderstellt.
„Auf diese Weise wird auch
das Alltägliche […] einzigartig und wertvoll.“
Auf diese Weise wird auch das Alltägliche, für uns oft nicht beachtenswert Erscheinende und erst recht nicht Festzuhaltende einzigartig und wertvoll. Denn jedes Foto, das wir machen, ist am Ende auch ein Stück Zeitgeschichte. Bleibt abzuwarten, wie Berlin 2049 aussehen mag und ob die zu sehenden Orte dann noch wiederzuerkennen sind. Eines ist jedoch sicher: Die Zeit wird nicht stehenbleiben.